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Nur, wo Werte sind, kann Sinn entstehen

 
 

 

Blogbeiträge

Können wir noch streiten?

 
 
 

Stell dir vor, du bist in einer antiken Diskussionsrunde. Neben dir sitzen Platon und vier weitere Personen mit den unterschiedlichsten Meinungen. Ihr streitet über ein Thema, jede:r vertritt seine Perspektive mit Engagement. Ihr hört euch gegenseitig aufmerksam zu, um die verschiedenen Blickwinkel besser zu verstehen und euren eigenen Standpunkt zu schärfen. Ein intellektuelles Feuerwerk, bei dem verschiedene Ideen aufeinandertreffen und neue Erkenntnisse entstehen. Angeregt kehrst du in die Gegenwart zurück.

Woher kommt der schlechte Ruf des Streits?

Heute haben die Wörter "Streit" und "Konflikt" einen schlechten Ruf. Sie werden oft mit Aggression und Gewalt in Verbindung gebracht. Kein Wunder, dieser Eindruck entsteht schnell, sobald man einmal in der Kommentarspalte eines provokanten Youtube-Videos oder Vergleichbarem gelandet ist. Und das sind wir wahrscheinlich alle schonmal. Hier sind eskalative Konflikte nur einen Klick entfernt, besonders wenn gegensätzliche Meinungen aufeinandertreffen. Es scheint dann ein Wettbewerb zu entbrennen, wer die schärfsten und bodenlosesten Beiträge schreiben kann. So als ob der/die “Gewinner:in” dann Recht hätte. Wie in einem virtuellen Schaukampf bewerfen sich die Teilnehmenden mit beleidigenden Kommentaren.  

Die Covid-Pandemie und die damit zusammenhängenden unterirdischen Streitereien haben ihr Übriges getan, um den Glauben an die deutsche Streitkultur vollends zu verlieren. 
Aber davon sollten wir uns nicht täuschen lassen. Im Internet werden “Hasskommentare” häufig durch vollautomatisierte Bots erzeugt, die also kein Mensch mehr selbst schreibt. Und auch in der Pandemie haben verschiedenste Desinformationskampagnen die Stimmung unnötig aufgeheizt. Wir sollten den Streit und sein verkorkstestes Image also aus dem Schatten holen, ins Licht stellen und von allen Seiten betrachten.

Solange es Menschen gibt, wird es auch Streit geben

Seien wir mal ehrlich, die Unterschiede zwischen Menschen müssen zwangsläufig zu Meinungsverschiedenheiten führen. Deshalb ist Streit ein ganz natürlicher Teil des menschlichen Zusammenlebens, mit dem wir umgehen können müssen. Die Konflikt-/Friedensforscherin Nicole Deitelhoff stellt allerdings eher wenig Fähigkeit zum Umgang mit Streit fest. Sie sagt, dass wir in Deutschland viel zu wenig streiten. Konflikte werden oft gar nicht erst zur Sprache gebracht, so Deitelhoff weiter, weil wir nicht mehr wissen, wie wir einen echten Konflikt aushalten sollen.  
Verhalten wir uns damit nicht unnatürlich? Der Konflikt schwelt so doch innerlich immer weiter und wird sich in anderen Symptomen äußern. Höchste Zeit also, den Umgang mit Konflikten zu lernen, anstatt ihn zu meiden. Ein erster Schritt kann sein, das konstruktive Potenzial und die Wichtigkeit des Streits zu begreifen.  
 
"Erst im Konflikt beginnen wir darüber nachzudenken, wie wir eigentlich zusammenleben wollen", sagt Deitelhoff hierzu. Das ist ein interessanter Gedanke, oder? Stell dir vor, du sitzt mit deiner Familie am Esstisch und ihr diskutiert über die Aufgabenverteilung im Haushalt. Jede:r hat eine andere Vorstellung davon, wie es gerecht zugehen sollte. Das ist der Moment, in dem ihr alle darüber nachdenkt, wie ihr als Familie zusammenleben wollt. 

Streit als Chance, sich intensiv mit etwas auseinanderzusetzen 

Im Duden wird Streit als ein heftiges Sich-Auseinandersetzen beschrieben. Diese Beschreibung begreife ich auch als Chance des Streits, sich intensiv mit einem Thema und verschiedenen Perspektiven auseinanderzusetzen. Wir bekommen die Möglichkeit, die "andere Seite" kennenzulernen. Im Duden steht auch, dass Streit mitunter in Handgreiflichkeiten mündet. Von diesem Streit rede ich nicht. Er verlässt damit die konstruktive Ebene. Ein Streit darf intensiv sein, aber auf der Ebene der Worte und des Intellekts, ohne Beleidigungen oder Gewalt. Es sollte dabei weniger um die beteiligten Personen, als um das Thema an sich gehen, worüber gestritten wird. Damit trägt konstruktiver Streit zur Meinungsbildung bei – ergebnisoffen, ohne Zwang eine Meinung zu ändern - aber mit der Möglichkeit, diese nachzuschärfen. Deshalb ist Streit ein wichtiger Teil des demokratischen Austauschs, der es uns ermöglicht, verschiedene Perspektiven besser zu verstehen.

Streit als Kulturelement 

So kann konstruktiver Streit zu einer Kultur beitragen, in der soziale Gruppen ihr Potenzial entfalten, weil unterschiedliche Standpunkte verstanden und gemeinsame Lösungen gefunden werden können. Vielleicht kennst du die Situation: du arbeitest in einem Team und es gibt gegensätzliche Meinungen darüber, wie ein Projekt angegangen werden soll. Wenn ihr euch darüber offen, aber respektvoll streitet, könnt ihr verschiedene Perspektiven einbeziehen und gemeinsam zu besseren Lösungen gelangen. Das ist wie ein Brainstorming, bei dem die Vielfalt der Gedanken die Kreativität beflügelt und neue Wege eröffnet. 

Dafür müssen wir offen für die Worte des anderen sein und ernsthaft versuchen, sie zu verstehen. Andernfalls dreht sich alles nur um unsere eigene Position. Dann wird es wie in den Echokammern des Internets, wo nicht wirklich miteinander geredet wird. 

Also lasst uns streiten! Nicht im Sinne eines aggressiven Gezankes, sondern im Sinne einer konstruktiven Auseinandersetzung. Lasst uns Themen zur Sprache bringen, uns intensiv darüber austauschen und offen für verschiedene Perspektiven sein. Denn so können wir gemeinsam wachsen, lernen und das volle Potenzial unserer Gesellschaft nutzen.