Keine Wertschätzung ist auch keine Lösung! Aber was dann?
Wertschätzung — heiß diskutiert, stets gefordert aber nie wirklich erfüllt, oder?
Liebe:r Leser:in, wie stehst du zum Thema Wertschätzung am Arbeitsplatz? In letzter Zeit ist mir das Thema Wertschätzung häufig begegnet und sehr unterschiedliche Meinungen dazu, insbesondere wie Wertschätzung in Unternehmen gelebt werden sollte bzw. könnte.
Ich saß neulich in der Bahn und begann ein Gespräch mit meinem Sitznachbarn. Wir sprachen über die hektische und von ständigem Wandel geprägte Zeit, und die Frage, wie Unternehmen mit der Verunsicherung und Frustration der Mitarbeitenden umgehen sollten.
Mein Gesprächspartner hatte eine spannende Antwort:
Im Unternehmen, in dem er arbeitete, wurde vor Kurzem eine „Kultur der Wertschätzung“ etabliert. Und scheinbar waren die Maßnahmen erfolgreich: die Mitarbeitenden waren nicht nur zufriedener, sondern auch produktiver, berichtete er.
Kommentar: Studien zeigen, dass Wertschätzung sich sogar positive auf die Gesundheit der Menschen, Motivation und schließlich auf den Erfolg des gesamten Unternehmens auswirkt.
Doch, wie sollte man diesen abstrakten Begriff in den Alltag, geschweige denn in die Kultur eines Unternehmens integrieren?
Kommentar: Laut Definition bedeutet Wertschätzung, etwas als wertvoll zu erkennen oder zu verstehen, sowie die guten Eigenschaften von jemandem oder etwas anzuerkennen oder zu genießen. Dabei geht es über bloße Anerkennung von Leistungen hinaus. Auch indirekte Formen wie verbesserte Arbeitsbedingungen, flexible Arbeitszeiten und mehr Autonomie, wie Vertrauen in die Fähigkeiten einer Person oder Berücksichtigung persönliche Bedingungen, wie die familiäre Situation oder gesundheitliche Probleme, sind Ausdruck von Wertschätzung.
Nun stiegen wir richtig tief in die Materie ein. Er schilderte den gesamten Prozess, den ich hier einmal abbilden möchte:
In einem ersten Schritt zur Wertschätzungskultur ging es ums Zuhören. Es wurden Gesprächsrunden eingeführt, in denen Mitarbeitende mit der Geschäftsführung ihre Fragen, Ideen und Bedenken besprechen konnten.
Der zweite Schritt war das Miteinander zu stärken: Es wurde Budget freigegeben, um regelmäßige Teamevents und Workshops zu unterstützen, bei denen die Zusammenarbeit und das gegenseitige Verständnis im Vordergrund standen.
Im Unternehmen wurde das Thema Wertschätzung aktiv mit den Führungskräften sowie Mitarbeitenden besprochen und Training zu Selbst-Wertschätzung und „Fremd“–Wertschätzung angeboten. Daraus entwickelten die Mitarbeitenden kleine Gesten, die sie in ihren Teams etablierten. Mitarbeitende schrieben sich gegenseitig kleine Dankeskarten, diese konnten in einer Gemeinschaftsecke aufgehängt werden.
Als wir darüber sprachen, wie die Führungskräfte geschult wurden, um regelmäßig und authentisch Lob auszusprechen, mischte sich eine weitere Person in unser Gespräch ein.
STOPP! DAS GEHT JA GAR NICHT!
Sichtlich aufgebracht erklärte sie: Ich finde es sehr schwierig, Führungskräfte zu schulen, damit sie ihre Mitarbeitenden loben. Wie würde ich mich denn fühlen, wenn ich weiß, dass meine Vorgesetzte gerade auf so einer Schulung war, und plötzlich lobt sie mich für meine Aufgaben. Da ist nichts authentisch dran und niemand fühlt sich dadurch wertgeschätzt. Außerdem klingt das unfassbar hierarchisch, denn allein die Führungskraft hat zu entscheiden, was gut ist und was schlecht. Das hat doch nichts mit Augenhöhe zu tun!
Da uns diese komplett gegenteilige Ansicht überraschte, baten wir unser Gegenüber, seine Meinung weiter auszuführen. Sie erklärte, dass für sie diese Art von Lob und Wertschätzung in eine Abhängigkeit führen könnte. Was passiert denn, wenn ich die Einschätzung meiner Arbeit immer nur vom Lob meiner Führungskraft abhängig mache? Dann will ich andauernd Dankeskärtchen oder Lobeshymnen. Und wenn die ausbleiben, bin ich ständig unzufrieden, weil ich den Wert meiner Arbeit nicht mehr von mir aus einschätzen und für gut befinden kann. Ich habe das in unserem Unternehmen schon durch mit den Dankeskärtchen und es ist komplett schief gegangen.
Kommentar: Tatsächlich zeigten unter anderem die Stanford-Professorin Carol Dweck sowie der niederländische Psychologe Eddie Brummelmann mit ihrer Forschung über die Entwicklung von Kindern, dass Lob tatsächlich mit einer Reihe negativer Effekte einhergehen kann. Relevant ist hierfür vor allem, wofür gelobt wird. Eine Person kann entweder für ihre Mühe, Anstrengung oder Herangehensweise (prozessbezogen) Lob erhalten, oder für ihre Eigenschaften oder Talente (personenbezogen). Durch personenbezogenes Lob wirkt Erfolg oder Misserfolg als ein Ergebnis durch wenig veränderliche Merkmale. Auch ein zukünftiger Misserfolg würde dann auf die Person und nicht auf ihre Handlungen zurückfallen. Zuletzt bleibt auch ein positives Urteil immer noch ein Urteil, und wenn zum Beispiel eine Führungskraft personenbezogen ihre Mitarbeitenden als „gut und talentiert für ihren Job“ bezeichnet, kann hierein auch interpretiert werden, dass die Führungskraft ihre Mitarbeitenden als Menschen bewerten kann, was wiederum den Eindruck einer Hierarchie verstärken kann.
Sie erklärte weiter: Wichtig ist, ob du selbst deine Arbeit gerade als sinnstiftend für dich und konstruktiv für das Unternehmen erlebst. Du musst für dich zu der Erkenntnis kommen, ob du ein wichtiger Teil deines Teams bist und ob du dich angestrengt hast. Kurz: Du musst einfach selbst lernen, dich wertzuschätzen. Dann brauchst du kein Lob von außen.
Und jetzt?
Leider musste ich jetzt aussteigen. Ich hätte mich gerne weiter mit den Beiden unterhalten, gerade weil sie so unterschiedlicher Meinung waren. Allerdings dachte ich noch lange über dieses Gespräch nach. Auch recherchierte ich zu dem Thema und sprach mit Menschen aus meinem Umfeld. Was kann eine Organisation also tun, um eine Wertschätzungskultur zu etablieren?
Mein Ergebnis: DIE Wertschätzungskultur gibt es nicht. Wir sind als Menschen alle unterschiedlich. Während sich die Einen durch ein Lob bewertet und dadurch hierarchisch unterlegen fühlen, ziehen Andere daraus Anerkennung und Selbstwert. Manchen Menschen fällt es sehr leicht, sich selbst in ihrer Arbeit wertzuschätzen und diese als gut anzuerkennen, andere brauchen mehr Orientierung, um zu wissen, wie sie oder ihre Leistung gerade im Team eingeschätzt wird. Gerade wenn man neu in einem Team ist, ist Feedback besonders wichtig, um Verunsicherungen zu reduzieren und Erwartungen zu klären. Schließlich kennt man die Erwartungen von Kolleg*innen und Vorgesetzten noch nicht. Lob bleibt dabei allerdings ein zweischneidiges Schwert.
Doch wie mit diesen Unterschieden umgehen? Aus der Wissenschaft wissen wir, dass keine Wertschätzung auch keine Lösung ist. Menschen brauchen Wertschätzung, es ist ein soziales Grundbedürfnis, dass jeder Mensch hat. Doch Wertschätzung beutet für jede*n etwas anderes – Für eine Person Autonomie und Vertrauen in ihre Arbeit, für eine andere Person Anerkennung und Lob. Daher sollten Unternehmen vielleicht gar nicht erst versuchen, eine Wertschätzungskultur einzuführen, in der Wertschätzung für alle das gleiche bedeuten muss.
Vielleicht muss hier kleiner gedacht werden. Führungskräfte könnten aktiv auf Mitarbeitende zugehen und diese fragen, was sie brauchen und was sie sich wünschen, und darauf individuell eingehen. Dies ist natürlich eine deutlich komplexere Aufgabe als einfach ein Lob auszusprechen, jedoch gehört es zu Führung dazu, die verschiedenen Bedürfnisse des Menschen anzuerkennen und zu berücksichtigen.