Intransparenz nach Katastrophen
Aktuell wird im Zuge der Energiewende wieder stark über die Vorteile und Risiken von Atomkraft diskutiert. Wie groß das Risiko sein kann, zeigte uns die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl.
Wie man im Zuge einer solchen Katastrophe nicht kommunizieren sollte, zeigte sich ebenfalls.
Tschernobyl rückte ins öffentliche Bewusstsein, als am 26. April 1986 ein Kernkraftwerk havarierte. In Block 4 kam es zu einer vollständigen Kernschmelze. Durch die folgenden Explosionen wurden radioaktive Stoffe in die Luft gestoßen. Sie kontaminierten die gesamte Umgebung.
Es war der erste Nuklearunfall, der auf der internationalen Bewertungsskala als GAU (größter anzunehmender Unfall) eingestuft wurde. Zwar schätzen Expert*innen die Eintrittswahrscheinlichkeit eines atomaren GAUs als äußerst gering ein. Doch wenn er eintritt, sind die Folgen hoch gefährlich und lebensbedrohlich, auch für Menschen, die räumlich und zeitlich weit von dem aktuellen Geschehnis entfernt sind.
Die Katastrophe ist Sinnbild des UdSSR-Systems mit maroder Infrastruktur. Sie verdeutlicht, wie wenig das Regime in der Lage war, die Folgen in den Griff zu bekommen. Gleichzeitig wurde Tschernobyl zum Synonym für schlechte Informationspolitik und Misstrauen gegenüber dem Staat. Erschreckend, wie leichtfertig die sowjetischen Behörden mit dem Vorfall umgingen.
Transparenz in Form einer offenen Kommunikation im politischen Diskurs einer Demokratie ist eine Grundvoraussetzung. Die Bevölkerung muss - im Sinne der Mitbestimmung - in der Lage sein, Argumente zu entwickeln und auszutauschen. Die Entscheidung darüber, was transparent sein soll, ist eine Entscheidung darüber, was im öffentlichen Raum verhandelt werden darf. Somit sind Entscheidungen darüber, was transparent sein soll, auch Machtentscheidungen.
Die wichtigste Forderung bei der Gründung der Sowjetunion war, dass der kommunistische Staat gerecht sein sollte. Die Menschen sollten ihren Staat selbst gestalten. Doch diese Vorstellung wurde nie umgesetzt; die Sowjetunion entwickelte sich zur Diktatur. Und in diesem Sinne erfolgte auch die Informationspolitik im Zuge der Katastrophe von Tschernobyl:
Der größte Teil der radioaktiven Strahlung entwich in den ersten zehn Tagen nach der Havarie. Doch die Verantwortlichen informierten weder die Bevölkerung, noch brachten sie die Menschen, die in der unmittelbaren Umgebung des Reaktors lebten, schnell in Sicherheit. Die Leitung des Atomkraftwerks erklärte bis zum Abend des 26. April, dass Block 4 intakt sei und infolge einer Überprüfung lediglich gekühlt werden müsse.
Als die Regierung über die Ereignisse informiert wurde, setzte sie eine Untersuchungskommission ein und schickte Rettungstrupps. Die Bevölkerung – auch in unmittelbarer Umgebung – wurde nicht informiert. Erst als am 28. April 1986 in einem schwedischen Ort mehr als 1.200 Kilometer von Tschernobyl entfernt erhöhte Radioaktivität gemessen wurde, erhärtete sich der Verdacht, dass es in einem sowjetischen Kernkraftwerk zu einem GAU gekommen war.
An diesem Abend erfuhr die sowjetische Bevölkerung von einem Unfall in Tschernobyl. Über das Ausmaß der Katastrophe und erste Opfer wurde nicht informiert. Am 29. April war dann erstmals die Rede von einer „Katastrophe“ und von zwei Todesopfern. Nach und nach begann man die Anwohner*innen zu evakuieren.
Auch die Politik in Deutschland hat den Grundsatz der Transparenz missachtet. Die Behörden waren auf einen derartigen Unfall nicht ansatzweise vorbereitet. Es dauerte Tage, bis erste Informationen an die Öffentlichkeit herausgegeben wurden. Es herrschte Unklarheit über die Ausmaße der Katastrophe und deren mögliche Folgen.
Als erste Meldungen über das Unglück von Tschernobyl eingingen, reagierten Bundes- und Landesregierungen jedoch zuerst beschwichtigend, dann mit teils widersprechenden Handlungsanweisungen und Verhaltensmaßregeln. Es hieß beispielsweise, dass eine Gefährdung der Bevölkerung „absolut auszuschließen“ sei.
Die radioaktive Wolke erreichte am 29. April Deutschland und ging aufgrund starker Regenfälle vor allem in Süddeutschland nieder. Noch heute sind Pilze und Wild aus bayerischen und baden-württembergischen Wäldern radioaktiv belastet. Bis zum 5. Mai 1986, als erstmals Verlautbarungen der beim Bund angesiedelten Strahlenschutzkommission auf dem Amtsweg bis zu allen Gemeinden vorgedrungen waren, befanden sich Politik und Verwaltung gewissermaßen im Ausnahmezustand. Kommunale Verwaltungsebenen, die mit Messergebnissen und Besorgnissen der Bevölkerung in ihrer Region konfrontiert wurden, reagierten darauf mit vielfältiger Eigeninitiative oder hilfloser Passivität.
Im Frühjahr 1986 fühlte sich die Bevölkerung von der Politik schlecht informiert und allein gelassen. Keiner wusste genau, was wie stark belastet war, wie stark überhaupt etwas belastet sein durfte, wie viel Radioaktivität noch kommen würde und was zu tun sei. Die unsichtbare Gefahr der Radioaktivität verunsicherte die Deutschen sehr.
Dort, wo also Informationen nicht oder nur teilweise verfügbar sind, wird der Informationsfluss und damit politisches wie öffentliches Handeln behindert und die für Entscheidungen notwendigen Informationen sind nicht oder nur unzureichend verfügbar.
Sowohl die Folgen der Katastrophe als auch die mangelhafte Kommunikationspolitik und die Handlungsträgheit dauern bis heute an. Der notdürftige „Sarkophag“ aus Beton, der nach der Katastrophe über die Unglücksstelle gestülpt wurde, ist mittlerweile ausgetauscht. Ein Ersatzbau scheiterte lange an der ungeklärten Finanzierung.
Hätte ein von Beginn an transparenterer Umgang mit der Katastrophe in Tschernobyl etwas geändert?
Wir wissen es nicht und werden es auch nie genau wissen können.
Aber vermutlich hätten viele Menschen vor der Verstrahlung und dem Tod gerettet werden können. Die Bewohner*innen in der Ukraine in erster Linie, und auch die gesamte Welt wären weniger abhängig von der Regierung und dessen Umgang mit der Krise gewesen. Sie hätten sich schneller in Sicherheit bringen können, eigenständig für sich Entscheidungen treffen können, Handlungen initiieren und frühzeitiger Mensch und Natur helfen können. Gleichzeitig wäre das eine Chance gewesen, die Bevölkerung als mündige und handlungsfähige „Stakeholder“ in die Bewältigung der Krise zu integrieren und gegenseitiges Vertrauen zu stärken. Wer weiß... vielleicht hätte diese Synergie ungeahnte Kräfte mobilisiert?!
Wir wissen es jedoch nicht.
Und wo stehen wir heute? Gibt es für die Bergung des hochradioaktiven Mülls aus der Ruine und für die Endlagerung ein Konzept?
Wir wissen es nicht.