200703_wertefabrik_header-3.jpg

Inspiration

Nur, wo Werte sind, kann Sinn entstehen

 
 

 

Blogbeiträge

Dürfen wir in Ruhe arbeiten?

 

Foto von Wonderlane auf Unsplash

 
 

Als ich vor einigen Monaten einen neuen Job anfing, wurde ich gefragt, ob ich Interesse daran hätte einen Artikel für unseren Newsletter zu schreiben. Lust hatte ich große, aber auch ein bisschen Respekt, denn so etwas hatte ich noch nicht gemacht. Ich fragte meine neue Kollegin, wie sie beim Schreiben vorgeht. „Naja,“ sagte sie, „meistens schreibe ich ein paar Ideen auf, lasse das Thema dann eine Weile ruhen und wenn ich mich das nächste Mal daransetze, kommen mir oft neue Gedanken.“ Dieses „Gedanken ruhen lassen“ fand ich spannend. Bedeutet das, dass unser Gehirn ohne bewusstes Zutun weiterarbeitet? Gibt es dafür eine wissenschaftliche Erklärung? Was passiert, wenn wir äußere Reize ausblenden und unseren Gedanken freien Lauf lassen? 

Was passiert, wenn wir Gedanken „ruhen“ lassen – Das Default Mode Network 

Der Hirnforschung zufolge ist das sogenannte Default Mode Network dafür verantwortlich, dass während vermeintlicher Denkpausen doch erstaunlich viel in unserem Kopf passiert – Das Netzwerk umfasst verschiedene Hirnareale, die aktiv werden, wenn wir keine spezifischen Aufgaben verfolgen und einfach unseren Gedanken nachhängen, ohne ein konkretes Ziel. Sobald wir uns dann wieder aktiv einer Aufgabe widmen, kehren die Nervenzellen in einen inaktiven Zustand zurück. Was oft als Tagträumen oder „faules Nichtstun“ abgetan wird, hilft laut Forscher:innen dabei, dass das Gehirn – ähnlich wie im Schlaf – Synapsen neu sortiert, Assoziationen bildet und Erlebtes verarbeitet. Dies kann zu mehr Kreativität, besserer kognitiver Flexibilität und einer erhöhten Problemlösefähigkeit führen. Kurz gesagt: Das „Gedanken ruhen lassen“ bedeutet für das Gehirn alles andere als Stillstand. 

Psycholog:innen unterscheiden zwei Arten des Tagträumens: Das unfreiwillige, spontane Abschweifen der Gedanken und zum anderen das gezielte Abschalten, bei dem wir uns aktiv dazu entscheiden, unsere Gedanken schweifen zu lassen. Die bewusste Form des Tagträumens ist laut Forscher:innen des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig mit spezifischen Veränderungen im Gehirn verbunden. Bei Menschen, die häufig bewusst ihren Gedanken nachhängen, ist der Kortex in bestimmten Bereichen des Stirnhirns dicker," erklärt Johannes Golchert, Doktorand am Institut und Hauptautor der Studie. Diese Gehirnareale sind maßgeblich an der Steuerung unserer Handlungen und Entscheidungsprozesse beteiligt. Das Tagträumen, das oft mit Unproduktivität verbunden ist, könnte gezielt eingesetzt tatsächlich ein echter Produktivitäts-Booster sein. 

Wie viel akustische Ruhe brauchen wir?  

Nun hatte ich all diese Infos über das Default Mode Network gelesen und versuchte das mit dem Gedanken-Schweifen lassen gleichmal an meinen nächsten Arbeitstagen, an denen ich den Newsletter-Artikel schreiben sollte. Dass dies gar nicht so leicht werden sollte, wurde mir schnell klar – Telefone klingelten, Gespräche wurden neben mir geführt, und das Summen der Drucker zog meine Aufmerksamkeit ständig zurück ins Hier und Jetzt. Dass Lärm am Arbeitsplatz nicht nur das gedankliche Abschweifen erschwert, sondern ebenfalls die Aufmerksamkeitsfähigkeit und Produktivität verringert, legen verschiedene Studien nahe.  Es wird auch davon ausgegangen, dass weniger anspruchsvolle Aufgaben weniger davon betroffen sind als komplexe und schwierige Aufgaben. Besonders ablenkend scheinen ebenfalls verständliche Gespräche zu sein, die sich nur schwer ignorieren lassen.  

Eine Studie von Forscher:innen der Universität Pavia in Italien geben jedoch einen Hinweis darauf, dass wir möglicherweise gar kein konstant ruhiges Umfeld brauchen, um wirklich zu entspannen und abschalten zu können. Die Forscher:innen ließen Versuchspersonen Musik aus verschiedenen Genres hören und legten zwischendurch kurze Pausen ein. Dabei stellten sie fest, dass die Herz-Kreislauf-Daten der Teilnehmenden während der Musik anstiegen, in den zweiminütigen Pausen jedoch teils sogar unter das Ausgangsniveau sanken – ein Zeichen tiefer Entspannung. Besonders effektiv scheint der Wechsel zwischen Musik und Stille zu sein, da das Gehirn dadurch anscheinend noch besser abschalten kann als bei durchgehender Ruhe. 

Vielleicht müssen wir also nicht darauf warten, bis es wir ein paar Stunden am Stück völlige Ruhe haben. Stattdessen könnten wir gezielt kleine Ruheinseln in den Alltag einbauen, in denen wir für einen Moment abschalten und unsere Gedanken treiben lassen – selbst inmitten eines vollen Arbeitstages. Wie dies möglich ist, dazu später mehr. 

Auch am Arbeitsplatz ist das Bedürfnis nach Ruhe legitim, sogar wichtig! 

Dass Ruhe – sowohl mental als auch akustisch – uns und unserem Gehirn guttut, wissen viele von uns bereits ohne je von dem Default Mode Network gehört zu haben. So sind wir in unserer Freizeit immer mehr bereit, uns ein wenig Ruhe zu erkaufen: Sei es durch Waldbaden, Silent-Retreats oder Noise-Cancelling-Kopfhörer - wir wollen endlich ein bisschen Pause von der Dauerbeschallung unseres Alltags.  

Doch wie sieht das mit der der Ruhe an unserem Arbeitsplatz aus? Dort verbringen wir einen Großteil unserer Zeit, aber äußere Einflüsse wie Meetings, Telefonate oder spontane Gespräche entziehen sich oft unserer Kontrolle. Zusätzlich existiert die unausgesprochene Erwartung, dass „Abschalten“ oder „Gedanken schweifen lassen“ als unproduktiv wahrgenommen wird. Sich vor einem wichtigen Meeting eine kurze Auszeit oder einen Spaziergang zu gönnen, um die Gedanken zu sammeln, könnte schnell den Eindruck erwecken, man würde sich „drücken“ oder Arbeitszeit für private Pausen verwenden. Diese Unsicherheiten können dazu führen, dass wir uns im Arbeitskontext seltener trauen, Raum für Ruhe einzufordern – und das, obwohl ein frischer Kopf hier besonders wichtig ist. 

Kommunikation von Bedürfnissen statt Scheinterminen 

Das ein Bedarf an ungestörter Zeit besteht, in der sich Mitarbeiter:innen ungestört ihrer Arbeit widmen können zeigen Studien, die darauf hindeuten, dass einige Mitarbeiter „Scheintermine“ in ihren Kalender eintragen, um sich ungestörte Zeit am Arbeitsplatz zu sichern. Das Motiv dahinter scheint das Bedürfnis nach konzentrierten, ablenkungsfreien Zeitblöcken zu sein, die nicht durch Last-Minute-Besprechungen oder anderen Ablenkungen im Büro gestört werden. Tools wie die App „Look Busy“ nehmen Mitarbeiter:innen die Erstellung solcher „Scheintermine“ mittlerweile ab. 

Die vermeintliche Notwendigkeit Scheintermine vorzuschieben, zeigt auch, wie schwer es uns fällt, ungestörte Zeiten direkt einzufordern. Wenn wir uns schon für fokussierte Arbeitszeit hinter Kalenderterminen verstecken müssen, dann wird es erst recht schwierig, offen Zeiten zu fordern, in denen wir unsere Gedanken frei fließen lassen können, um neue Ideen zu entwickeln und kognitive Ressourcen aufzutanken. Doch was können wir tun, um Ruhe im Arbeitsalltag für uns einzufordern?  

Anstatt sich Ruhe und Freiraum mithilfe von „Scheinterminen“ zu erkämpfen, wäre es langfristig sinnvoller, die eigenen Bedürfnisse nach Ruhe und fokussierter Zeit offen anzusprechen. Dafür ist es wichtig, sich selbst ehrlich zu reflektieren und anzuerkennen, wann und wie viel Ruhe wir brauchen, sowie die Erlaubnis, Gedanken auch mal ruhen zu lassen. Ein anschließendes, offenes Gespräch im Team über ungestörte Phasen und feste Ruhezeiten könnte dabei helfen, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln und Strukturen zu etablieren, die konzentrierte Arbeitsblöcke ermöglichen. Durch klare Kommunikation und abgestimmte Techniken wie vereinbarte „Ruhezeiten“ könnte eine Arbeitskultur entstehen, in der fokussiertes Arbeiten ohne ständige Unterbrechungen normal und akzeptiert ist. Solche Ansätze stärken nicht nur die Arbeitsqualität, sondern auch den Teamzusammenhalt, weil jeder merkt, dass seine individuellen Bedürfnisse respektiert werden. 

Quellen  

  • Asselineau A, Grolleau G, Mzoughi N. Quiet environments and the intentional practice of silence: Toward a new perspective in the analysis of silence in organizations. Industrial and Organizational Psychology. 2024;17(3):326-340. doi:10.1017/iop.2024.9 

  • Buckner RL, Andrews-Hanna JR, Schacter DL. The brain's default network: anatomy, function, and relevance to disease. Ann N Y Acad Sci. 2008 Mar;1124:1-38. doi: 10.1196/annals.1440.011. PMID: 18400922. 

  • Sust, C., Lazarus, H., & Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. (2007). BöcklerimPuls 8/2007 [Journal-article]. https://www.boeckler.de/pdf/impuls_2007_08_2.pdf 

  • Walter, F. (2023). Default Mode Network » HIRN UND WEG » SciLogs - Wissenschaftsblogs. HIRN UND WEG. https://scilogs.spektrum.de/hirn-und-weg/was-tut-unser-hirn-wenn-wir-nichts-tun/ 

  • Von Hopffgarten, A. (2023). Ruhe bitte! Spektrum. https://www.spektrum.de/news/stille-warum-das-gehirn-ruhe-braucht/1798298 

 
Lea LukasWissenswertes