Die Kraft der Generosität
Wenn man den Begriff Generosität hört, löst er direkt Bilder im Kopf aus. Bei mir sind es zwei verschiedene: Zum einen ein wohlhabender Mensch, der großzügig Geld spendet und zum anderen eine Person, die ehrenamtlich in ihrer Freizeit Essen an Bedürftige verteilt. Je länger ich nachdenke, desto mehr Bilder kommen. Damit verbunden stellen sich mir die Fragen, was Generosität eigentlich ist und wie sie entsteht? Wer kann sich Generosität leisten? Und warum tut man etwas für andere, ohne Gegenleistung?
Etymologie
Der Begriff „Generosität“ stammt aus dem Lateinischen. Genus bedeutet „Abstammung, Geschlecht“, während generosus „von edler Herkunft, edler Art“, bedeutet. Dies deutet darauf hin, dass Generosität ursprünglich vor allem eine Tugend der oberen Schichten war – jener, die es sich leisten konnten, generös zu sein. Doch im Laufe der Zeit hat sich die Bedeutung des Begriffs gewandelt. Der Duden definiert generös heute als „großmütig; großzügig, nicht kleinlich im Geben, im Gewähren von etwas“. Eine Bedeutung, die nicht mehr an Herkunft gebunden ist, sondern eher eine umfassendere Haltung ausdrückt, die sich in verschiedenen Lebensbereichen zeigen kann.
Konzeptualisierung
In der psychologischen und soziologischen Wissenschaft gibt es keine einheitliche Definition und Konzeptualisierung der Generosität. Sie wird häufig mit Altruismus in Verbindung gebracht. Im Wörterbuch der American Psychological Association (APA) wird generosity als “the quality of freely giving one’s support or resources to others in need” definiert. Es wird diskutiert, ob dies eine stabile Persönlichkeitseigenschaft oder ein situationsabhängiger Zustand ist. Studien deuten darauf hin, dass positive und negative Emotionen generöses Verhalten kurzfristig beeinflussen können. Einige Personen sind dabei grundsätzlich stärker zu Spenden bereit als andere, was für Stabilität dieses Merkmals spricht. Doch Generosität scheint zu komplex, um auf eine einfache Formel reduziert zu werden.
Empathie und Perspektivübernahme
Wichtig für Generosität scheinen Empathie und Perspektivübernahmefähigkeiten zu sein. Wenn wir uns z.B. ernsthaft in die Lage einer bedürftigen Person hineinversetzen und nachfühlen können, wie sie sich in etwa fühlen muss, entsteht bei vielen der Wunsch zu helfen. Hier spielen vergangene Erfahrungen eine wichtige Rolle – wir erlernen durch unsere Eltern, Vorbilder, Lehrer, ob und wie wichtig es ist, anderen zu helfen und wie Bedürftigkeit zu bewerten ist. Dabei spielt auch eine Rolle, wie mit uns umgegangen wurde, ob uns selbst in unserem Leben empathisch und zugewandt begegnet wurde oder ablehnend und desinteressiert.
Eine prähistorische Überlebensstrategie?
Evolutionsbiologisch wird argumentiert, dass prosoziales Verhalten vorteilhaft ist, weil es soziale Bindungen stärkt und darüber die Überlebenschance erhöht. Eng damit verbunden ist die Reziprozitätsnorm, nach der Menschen sich großzügig verhalten, weil sie erwarten, dass sich andere in Zukunft revanchieren werden. Das erklärt allerdings nicht, warum sich Menschen gegenüber Fremden, die sie wahrscheinlich nie wieder sehen werden, generös verhalten. Generosität geht über reine Überlebensstrategien hinaus.
Gar nicht so selbstlos
Auf den ersten Blick mag generöses Verhalten irrational erscheinen – man gibt etwas von seinem eigenen Besitz oder seiner eigenen Zeit ab, ohne eine direkte Gegenleistung zu erwarten. Auf den zweiten Blick fällt auf, dass es häufig “Gegenleistungen” gibt. Studien zeigen, dass großzügiges Verhalten das eigene Glücksgefühl und die Lebensfreude erhöht. Damit steigert Generosität nicht nur das Wohlbefinden derjenigen, die sie empfangen, sondern auch das derjenigen, die sie geben – das sogenannte “Helper’s High”. Es gibt viele Motive generös zu handeln: aus moralischen und religiösen Gründen (“geben ist seliger als nehmen”), aus Wohlwollen oder Mitleid oder auch aus Dankbarkeit. Man kann sich aber auch genötigt fühlen generös zu handeln, durch Schuldgefühle oder sozialen Druck. Hier bietet generöses und selbstloses Verhalten eine Möglichkeit die Spannungen dieser Beweggründe zumindest kurzfristig zu lösen.
Zwei Formen der Generosität
Es scheint darüber hinaus Formen der Generosität zu geben, die weniger stark im Egoismus begründet liegen, sondern in einer starken Haltung der Offenheit für Menschen und die Welt. Materielle Generosität bedeutet, die eigenen Ressourcen – Geld oder Besitz – mit anderen zu teilen. Dies ist die Form der Generosität, die uns oft zuerst in den Sinn kommt. Die Generosität des Geistes (generosity of spirit), wird auch als Seelengröße bezeichnet und zeigt sich hingegen in der Haltung, mit der jemand anderen Menschen und der Welt begegnet – beispielsweise mit authentischem Interesse und Offenheit, oder mit der Bereitschaft, das persönliche Wissen und die eigene emotionale Unterstützung großzügig zu teilen. So fasst Dieter Frey (Sozialpsychologe) zusammen: “Während man im Sinne der materiellen Generosität einen Teil seiner Ressourcen mit anderen teilt, beinhaltet die Seelengrößte somit das Geben eines Stückes von sich selbst.”
Generosität als soziale Tugend
Generosität hat damit nicht nur individuelle, sondern auch gesellschaftliche Auswirkungen. Studien zeigen, dass Menschen, die zuletzt fair und gerecht behandelt wurden, eher dazu neigen, in der Folge selbst großzügig zu handeln. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass auch die Generosität des Geistes einem offenen und tolerantem gesellschaftlichen Klima zuträglich ist. Generosität scheint also eine positive Rückkopplungsschleife zu erzeugen: Je mehr Menschen sich generös verhalten, desto mehr wird dieses Verhalten in der Gesellschaft verstärkt. Eine wünschenswerte Dynamik.
Generosität in Organisationen
Diese Dynamik lässt sich auch auf Organisationen anwenden. Eine große Herausforderung für Unternehmen ist das Wissensmanagement. Hier kann die Generosität des Geistes entscheidend sein: Wenn Mitarbeitende bereit sind, ihr Wissen, ihre Erfahrungen und ihre Fähigkeiten großzügig zu teilen, profitiert das Unternehmen und seine Belegschaft davon erheblich. Besonders relevant ist dies in Zeiten des demografischen Wandels, wenn viele erfahrene Mitarbeitende in den Ruhestand gehen und ihr Wissen und ihre Fähigkeiten mitnehmen. Um zu verhindern, dass diese wertvollen Informationen verloren gehen, ist es wichtig, eine Kultur des offenen Wissensaustauschs zu fördern, die dazu beiträgt, Wissen zu teilen und es neuen oder jüngeren Mitarbeitenden zugänglich zu machen. Auch hier sind zusätzliche positive Rückkopplungsschleifen zu erwarten. Deshalb sollte Generosität ein wichtiger Bestandteil der Führungskräfteentwicklung sein, um eine entsprechende Reflexion und Integration im Unternehmen zu fördern.
Die Balance finden
Doch Generosität bedeutet nicht, grenzenlos zu geben. Es ist wichtig, die eigenen Grenzen zu kennen und bewusst zu entscheiden, was und wie viel man geben kann, ohne sich selbst zu überfordern. Die Generosität des Geistes beginnt bei uns selbst. Wer seine eigenen Unzulänglichkeiten akzeptieren und sich selbst mit Nachsicht behandeln kann, ist eher in der Lage, anderen großherzig und nachsichtig zu begegnen.
Wer kann sich Generosität leisten?
Wer kann sich also Generosität leisten? Die Antwort ist einfach: Jede:r. Generosität ist keine Frage des Reichtums oder der materiellen Möglichkeiten – sie ist mehr als das. Sie ist eine Haltung und Tugend, die in vielen Formen auftreten kann. Jeder von uns kann generös sein, indem er seine Zeit, seine Aufmerksamkeit oder seine Fähigkeiten mit anderen teilt.
Der Wert der Generosität
Vielleicht ist die Kraft der Generosität, dass sie nicht nur das Leben der Empfänger:innen bereichert, sondern auch das der Gebenden. In einer Welt, in der wir oft danach streben, mehr zu haben, kann uns die Generosität daran erinnern, wie wertvoll es ist, zu geben.