Zwischen Sicherheit und Unsicherheit: Ein Balanceakt des Lebens
Stell dir vor, du stehst an einer Kreuzung des Lebens, und vor dir liegen zwei Wege: der eine ist breit, sicher, vertraut, der andere schmal, verwinkelt und unbekannt. Welchen wählst du?
Wo würdest du den Schieberegler für dein allgemeines Sicherheitsgefühl platzieren? Fühlst du dich im Allgemeinen eher sicher oder eher unsicher? Welche konkreten Situationen lassen dich sicher fühlen? Und was löst bei dir Unsicherheit aus?
Was ist das überhaupt – Sicherheit? Versuchen wir uns mal anzunähern. Im Entwurf der aktuellen nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung wird Sicherheit anhand von drei Dimensionen definiert: der Schutz vor Krieg und Gewalt, der Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Soweit so politisch.
In der Psychologie wird Sicherheit im Wörterbuch der APA (American Psychological Association) als ein Gefühl der Bewusstheit, des Vertrauens und der Freiheit von belastenden Befürchtungen oder Sorgen beschrieben. Man geht hier davon aus, dass dieses Sicherheitsgefühl durch Faktoren wie warmherzige, akzeptierende Eltern und Freunde, die Entwicklung altersgerechter Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Erfahrungen, die ein stabiles Selbstwertgefühl erzeugen, entsteht. Das geht in die Richtung einer Überzeugung, “was auch immer mir das Leben bringen wird, ich werde (zusammen mit anderen) eine Antwort darauf finden”.
Ich finde ein weiteres Konstrukt der Psychologie ein passendes Gegenstück zu diesem Sicherheitsgefühl – die erlernte Hilflosigkeit. Die Überzeugung, das eigene Leben nicht kontrollieren zu können. Oft entstanden aus negativen Erfahrungen früh im Leben. In der Folge versucht man erst gar nicht mehr Einfluss auf sein Leben zu nehmen. Man ist überzeugt, den Lauf der Dinge nicht beeinflussen zu können. Zur Erklärung wurde in meinem Psychologiestudium das Beispiel der Zirkuselefanten herangezogen. Als Jungtiere werden sie an Holzpfählen festgebunden. Sie versuchen sich dann loszureißen, schaffen es aber nicht. Irgendwann lernen sie, dass es nicht klappt. Mit der Zeit wachsen sie. Als erwachsene Elefanten könnten sie dann ohne Probleme die Holzpfähle aus dem Boden ziehen und sich losreißen. Sie versuchen es dann aufgrund ihrer früheren Erfahrungen allerdings gar nicht mehr – das ist erlernte Hilflosigkeit.
Die letzten Jahre haben uns alle diese Empfindungen des Kontrollverlusts und der Hilflosigkeit spüren lassen: Pandemie, Krieg und Klimawandel. Das erinnert uns daran, dass unser Wohlstand keine Selbstverständlichkeit ist. Die Angst vor dem Abstieg ist für viele Menschen mittlerweile akut. Der Soziologe Heinz Bude erklärt dies auch damit, dass die Generationen des zweiten Weltkriegs die schlimmste vorstellbare Krise bereits hinter sich hatten. Sie haben in den Jahren des Wideraufbaus und wirtschaftlichen Aufschwungs optimistisch in die Zukunft geblickt, im Sinne eines „es kann nur besser werden“. Mittlerweile bestimmen jene Generationen unsere Gesellschaft, die in relativem Wohlstand aufgewachsen sind. Sie leben in dem Gefühl, dass das Schlimmste nicht bereits hinter ihnen liegt – sondern vor ihnen. Es nagt die Sorge, dass es nicht immer so sicher und gut sein wird, wie gewohnt. Hast du diese Sorge auch schonmal verspürt?
An der Verstärkung dieser Sorgen sind Politiker:innen verschiedener Lager beteiligt, weil sie von den Unsicherheiten und Sorgen der Menschen profitieren wollen. Prominentes Beispiel ist hier die AfD. Seit einiger Zeit werden aus ihrem Spektrum (aber nicht nur von ihnen) erfolgreich Untergangsszenarien verbreitet. Es gibt beispielsweise Internetseiten, auf denen alle Straftaten von Geflüchteten gesammelt werden, um den selektiven Eindruck zu erzeugen, die Gewalt dieser Personengruppen sei überbordend. Mit viel Energie wird dann über sämtliche social media Kanäle, aber auch in Reden und Wahlkampfveranstaltungen, das entsprechende Narrativ eines gesellschaftsgefährdenden Problems, durch z.B. Geflüchtete, verbreitet.
So werden gezielt Ängste und Unsicherheiten in der Bevölkerung geschürt, dass der Staat, die Polizei, nicht mehr Eigentum und Leib schützen - für Sicherheit sorgen kann. Man bedient sich hier psychologischer Mechanismen, da emotional negative Informationen besser im Gedächtnis hängen bleiben und dadurch später schneller erinnert werden.
Neueres Ziel ist die (Klima)politik der aktuellen Bundesregierung. Beispielsweise konnten die kommunikativen und fachlichen Fehler, die beim Heizungsgesetz begangen wurden, ausgenutzt werden, sodass der Begriff Heizungsgesetz mittlerweile Symbol für den „Klimawahnsinn“ geworden ist. Politiker:inner verschiedener Parteien bauten ein Drohszenario zwar nicht für Leib und Leben, aber doch für den Erhalt des Zuhauses und Eigentums auf.
Das sind nur zwei Beispiele, wie immer wieder aktuelle Geschehnisse genutzt werden, die sich dafür eigenen Bilder der Bedrohung durch “das Fremde”, “die da Oben”, “den grünen Klimawahnsinn” oder sonst etwas zu erzeugen. Diese Scheinanalysen der gesellschaftlichen Zusammenhänge sollen den Eindruck erwecken, die drängenden Probleme unserer Zeit und die Ursachen für die Probleme der Menschen erkannt zu haben. Dann präsentieren sie sich selbst, bzw. die Wahl ihrer Partei und ihrer Ideen, als einzige Lösung dieser Probleme.
Diese Mechanismen nutzt nicht nur die AfD für sich, sie lassen sich im gesamten politischen Spektrum finden. Das rechte Spektrum ist da aktuell aber besonders laut. Der Populismus ist damit nicht allein ein politisches, sondern auch ein kommunikatives Phänomen, dass über seine Polemik und scheinbar einfachen Lösungen viele Menschen in seinen Bann zieht. Er erzeugt oder verstärkt Unsicherheit in der Bevölkerung, um selbst davon zu profitieren. Ziemlich egoistisch.
Aus dieser Unsicherheitsgemengelage versuchen viele Menschen im Kleinen ein Gefühl der Kontrolle und Sicherheit zu erzeugen, die im Großen fehlt. Das können sein: Rituale und immergleiche Abläufe im alltäglichen Leben, die zu “Leinen der Sicherheit” werden. Sie können hilfreich und nützlich sein, um sich geschützte Räume im Privaten zu schaffen, solange nicht der Zwang entsteht, alles kontrollieren zu müssen.
Wenn man die Lage nüchtern betrachtet, stellt man schnell fest: das kollektive Sicherheitsniveau ist in der deutschen Gesellschaft im internationalen Vergleich sehr hoch. Natürlich gibt es Probleme und Nöte, die ich nicht klein reden will, aber hier muss kaum jemand um sein Leben fürchten. Dieses hohe Niveau aufrechtzuerhalten ist allerdings die Schwierigkeit. Ein robuster psychologischer Effekt ist, dass uns Verluste stärker schmerzen als uns Gewinne im selben Umfang freuen. Ist ein Niveau einmal erreicht, ist also jeder Abstieg ein schmerzlicher Verlust. Und das ist aktuell wahrscheinlich das Problem. Diese diffuse Wahrnehmung, die ich in den letzten Monaten bei verschiedenen Leuten gehört habe: „gerade wird alles ein bisschen schlechter“, schmerzt intensiv. Zur Vermeidung dieser Wahrnehmung versucht man es mit der Flucht nach vorne, immer ein bisschen mehr, um keine Verluste zu haben: mehr Sicherheit, auf keinen Fall weniger.
Letztlich bleibt das Leben immer ein wenig unbestimmbar und unvorhersehbar. Absolute Sicherheit ist deshalb eine Illusion. Und das ist auch gut so. Der Wunsch nach immer mehr Kontrolle irritiert mich. Dann wird das Leben doch schnell langweilig. Wo bleibt dann das Aufregende? Viele Menschen suchen gezielt das Abenteuer, weil Ungewissheit und Unsicherheit eine Spannung erzeugt, die auch etwas Lustvolles in sich trägt. Daher finde ich Unsicherheit einen wichtigen Teil des Lebens, um immer wieder auch mit dem Unvorhergesehenen konfrontiert zu werden.
Also lasst uns den Wert der Unsicherheit erkennen. Wie beschrieben ist es oft die Angst vor der Veränderung, dem Unbekanntem, die das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle befeuert, um das Bestehende zu schützen. Hier sollte der Optimismus zurückkehren und die Visionen, Dinge anders und besser machen zu können als bisher. Jeder Wandel bringt auch Chancen mit sich gestalterisch tätig zu werden. Nutzen wir sie!