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Die „Gesagt-Getan-Rate“ – oder: Wie werteorientiert handeln wir wirklich?

 
Die Gesagt-Getan-Rate: werteorientiertes Handeln in Organisationen

Photo by Austin Distel on Unsplash

 
 

In der Arbeit als Organisationsentwickler ist Werteorientierung unser Leitmotiv. Häufig werden wir dabei gefragt: „Woran erkenne ich eigentlich, ob mein Unternehmen werteorientiert handelt?“ Bei der Frage geht‘s offensichtlich um einen Realitäts-Check zum Verhältnis zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Zwischen Anspruch und konkreter Handlung. Dieses Verhältnis sagt viel über Glaubwürdigkeit aus. Die Glaubwürdigkeit des Unternehmens gegenüber den eigenen Mitarbeiter*innen.

Kaum ein Unternehmen begibt sich nicht heute auf die Suche nach dem eigenen „Purpose“. Es gehört heute zum guten Ton, ein Leitbild oder Wertekodex zu veröffentlichen. Skeptiker dieser Praxis triffst Du meist auf den Fluren derselben Unternehmen. Meist unbemerkt vom Top-Management, reagieren sie mit Augenrollen und einem müden Lächeln, wenn Sie mit dem „Werte-Klimbim“ konfrontiert werden.

Nicht selten erwarten Führungskräfte wahrhaftige Wunderdinge von den gleichen Wertekatalogen, die die Skeptiker kritisieren. Eine „Cultural Journey“ wird begangen, starke Slogans flankieren die „Culture-Evangelists“ und schicke Poster schmücken Flure und Besprechungsräume. Ausgerollt werden die neuen Heilsbotschaften über Werte-Workshops, auf denen der neue Kodex auch zugleich als Sticker verteilt werden. „Nur nicht vergessen, liebe Belegschaft! Ab heute gelten diese Werte und alles wird innovativer, moderner, agiler und vor allem kooperativer...“

Wir beobachten häufig, dass bei Maßnahmen zum Thema Unternehmenskultur 80% des Aufwandes in aufwendige Kampagnen und Kaskadierung der Botschaften stecken. 20% verbleiben dann noch, sich mit Mitarbeiter*innen der verschiedenen Ebenen den Fragen zum Praxistransfer, zum Nutzen im Alltag zu widmen.

Umgekehrt wird ein Schuh draus! Bei glaubwürdiger Werteorientierung sollte der Schwerpunkt mindestens zu 80% darin liegen, konkret abgeleitete Handlungen im Alltag zu erarbeiten, neue Gewohnheiten einzuschwingen, das Beschriebene zu reflektieren und immer weiter zu schärfen.

Gesagt. Getan.

Den Illusionen und Mythen rund um Werte- und Kulturarbeit im Unternehmen möchten wir früh im Prozess der gemeinsamen Arbeit entgegenwirken. In unseren Projekten zur Unternehmenskultur bringen wir daher die „Gesagt-Getan-Rate“ bereits bei der Auftragsklärung in den Dialog ein. Reinhard Springer – Mitgründer der legendären Agentur Springer & Jacoby – hat uns zu dieser Rate inspiriert. Sie dient allen Beteiligten als Werkzeug zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit. Wie ist die „Gesagt-Getan-Rate“ in Bezug auf jeden der postulierten Werte? Welche konkreten strukturellen, beobachtbaren und beschreibbaren Maßnahmen sind z.B. zum Wert „Vertrauen“ vereinbart? Wie sehen – wenn wir über Vertrauen sprechen – beispielsweise Unterschriftenregelungen aus? Wenn wir Teamwork postulieren, wie passt dazu unser Bonussystem? Eine niedrige Gesagt-Getan-Rate sagt aus, dass zu dem jeweiligen Wert wenig Konkretes (oder gar gegenläufiges) Handeln wahrnehmbar ist.

Wort und Tat zusammenbringen

Über fast alles innerhalb einer Organisation kann irgendwer, irgendwas entscheiden. Über die Kultur einer Organisation kann nicht entschieden werden. Kultur – die informale Seite einer Organisation – entzieht sich der direkten Steuerung. Eine Managerin kann eben nicht einfach entscheiden, dass es ab morgen eine Vertrauenskultur gibt. Für Unternehmenskultur kursieren zahlreiche Definitionen. Die griffigste und nützlichste für uns ist „die Menge der Gewohnheiten, in denen sich ein Unternehmen von seiner Umgebung unterscheidet.“

Aber nur weil die Kultur nicht entscheidbar ist, müssen die wohligen Worte in den Wertekatalogen nicht für immer leere Worthülsen bleiben. Wir haben vier Tipps für Euch und Eure Organisation zur Verbesserung der „Gesagt-Getan-Rate“:

1.    An der Formalstruktur ansetzen

Wie oben beschrieben, kannst Du die Kultur als Summe von miteinander eingeschwungenen Gewohnheiten nicht direkt steuern. Du musst sie quasi „über Bande“ beeinflussen und beobachten, was passiert. Diese Bande ist die Formalstruktur. Durch gezielte Interventionen auf dieser Seite kannst Du Impulse setzen und beobachten, wie sich diese auf das konkrete Verhalten der Organisationsmitglieder auswirken. Es gibt neben Verhalten eben immer auch Verhältnisse, die ein gewisses Verhalten nahelegen. Beispiele hierfür sind Änderungen im Berichtswesen, in der Teamzusammensetzung, eine Versetzung usw. Die Hebel, die Du in der Formalstruktur nutzen kannst, lassen sich in drei Gruppen – sog. Strukturtypen - aufteilen:

  • Programme (WAS sind Ziele, Kriterien und Prioritäten?)

  • Kommunikationswege (WIE wird miteinander kommuniziert?)

  • Personal (WER sind die Akteure?)

Wenn sich über die Interventionen neue Gewohnheiten einspielen, hast Du die Kultur wirksam, nachhaltig und hoffentlich im Sinne des Unternehmenszwecks beeinflusst.

Die Veränderungen auf der formalen Seite müssen übrigens nicht unbedingt immer ein „mehr an Formalstruktur“ bedeuten, es kann auch eine bewusste Reduzierung von Formalstrukturen bedeuten. So oder so sollte die Veränderung hypothesengeleitet und sorgsam sein. Jede Intervention bedeutet ein Eingriff ins operative Geschehen und sei daher gut überlegt und sukzessive durchgeführt.

Dem Skeptiker sei hiermit also zugerufen: „Wertearbeit ist alles andere als Klimbim. Sie besteht aus gezielten Eingriffen in die Struktur einer Organisation – orientiert an den Unternehmenswerten.“ 

2.     Lose koppeln statt kaskadieren

In einer klassischen Sichtweise, geprägt durch ein Bild von Organisation als Maschine, ist die Kaskade der heilige Gral des Managements. Alles wird „nach unten kaskadiert“ – Ziele, Werte, Projekte, Verantwortung. Aus Vision wird ein Wertekatalog, in diesen Leitplanken entwickeln die Geschäftsbereiche strategische Ziele, daraus werden Projekte und Maßnahmen usw. Die Realität in Organisationen sieht allerdings ganz anders aus. Oftmals initiieren motivierte, innovative Teams auf Mitarbeiterebene durch eine geniale Produktidee eine neue strategische Richtung, oder das Marktgeschehen erfordert – obwohl nirgends im 5-Jahres-Plan zu finden – einen neuen Weg. Durch eine gute Gelegenheit wird ein „Start-Up“ durch eine Geschäftseinheit zugekauft und schon hat dies Einfluss auf die Kultur.

Nach unserer Erfahrung ist es in der Arbeit mit Unternehmenswerten nicht sinnvoll, kaskadenartig vorzugehen. Wir sprechen hier lieber von „loser Kopplung“ der einzelnen Ebenen und Elemente. Was meinen wir damit?

Wenn ein Wertekatalog als „Klammer“ professionell ausgearbeitet wurde, dann haben wir gute Erfahrungen damit gemacht, mit interessierten Mitarbeiter*innen rasch erste Schritte zu gehen. Machen statt planen, im Kleinen anfangen, mit ersten motivierten Teams Konkretes ableiten. So entsteht Momentum und meistens auch Sogwirkung.

Erfahrungsgemäß hilft der Grad an Abstraktheit von Wertekatalogen hier sogar, um auf jeglicher Ebene eigene Übersetzungen und vor allem Praxisnähe zu erzeugen. Um pragmatisch mit dieser Auseinandersetzung zu beginnen zu erleichtern, gibt es zahlreiche Werkezeuge wie zum Beispiel der Team-Monitor.

3.     Prozess statt Projekt

Das neue Leitbild ist geschliffen formuliert, zur Kommunikation wurde auf der Klaviatur der Unternehmenskommunikation gespielt. Und dann?

Der Vorstand wendet sich nach vollbrachtem Werk wieder „dem Business“ zu. Das Tagesgeschäft ist wieder Trumpf und sticht im täglichen Aushandeln der Prioritäten alle aus. Außerdem steht die neue Talent-Management-Initiative ja schon vor der Tür! Das Projekt „Leitbild und Werte“ ist erstmal beendet. Frei nach Karl Valentin darf man wohl vorhersagen: „Und urplötzlich geschah überhaupt nichts."

Wertearbeit im Unternehmen ist nie abgeschlossen. So wie Personalentwicklung kontinuierlich betrieben werden sollte, so auch die Arbeit an der „Gesagt-Getan-Rate“. Es hilft, wenn die Arbeit an und mit Unternehmenswerten von vorne herein als dauerhaftes Vorhaben angelegt wird.

Dies kann – wie in Tipp 2 beschrieben – individuell angepasst geschehen und muss nicht immer die große Kraftanstrengung einer unternehmensweiten Initiative bedeuten. Es braucht auch nicht zwingend ein übergreifendes System. Regelmäßige Dialoge, die sich der Frage widmen, inwieweit die Werte (nicht) gelebt werden und was daraus abgeleitet werden kann, sind unserer Erfahrung nach sehr wirksam und dienen darüber hinaus den jeweiligen Teamleiter*innen als Führungswerkzeug. Die Arbeit mit den sog. „Kulturkarten“ eignet sich dafür besonders.

4.     Konkretisieren und mit Widersprüchen offensiv umgehen

Wegen ihrer Abstraktheit haben Werte hohe Konsenschancen. Darin liegt natürlich ein Risiko. Das Risiko von Worthülsen! Unserer Erfahrung nach nehmen diese „Wir-befriedigen-alle-gleichzeitig-und-gleichrangig-Formeln“ den Wertekatalogen jegliche Orientierungswirkung.

Insbesondere dann, wenn die Wertekataloge einer Organisation nach außen Wirkung erzeugen sollen, stecken sie oftmals voller Widersprüche. Wie soll ich mich zum Beispiel verhalten, wenn eine Maßnahme zwar dem Prinzip „Kunde ist König“ dient, aber den Mitarbeiter*innen – dem „wichtigsten Kapital“ des Unternehmens – schadet (vgl. Kühl, 2017)? Widersprüche sind im Wirtschaftsleben normal und im Leitbild etwas Anderes zu behaupten trägt nicht zur Glaubwürdigkeit gegenüber der eigenen Belegschaft bei.

Eine Möglichkeit ist es, die sich widersprechenden Anforderungen eines Leitbildes offensiv als Widersprüche zu benennen. Zum Beispiel kann man durchaus den Wert der lokalen Verbundenheit betonen und gleichzeitig den Anspruch der globalen Reichweite formulieren. Standardisierte und stabile Abläufe können im Leitbild mit individuellen Lösungen als Wert benannt werden.

Während die Mitarbeiter*innen in der Harmonisierungsvariante häufig im Alltag mit einer illusorischen Vorstellung vernebelt werden, werden sie von der Variante, die offensiv die widerstreitenden Werte betont, eher in der organisatorischen Realität abgeholt. Außerdem trägt ein Ausdruck der Widersprüchlichkeit auch dazu bei, den ursprünglichen Wert zu schärfen und in der Auseinandersetzung damit einen Begriff zu finden, der das Gemeinte besser beschreibt.

Der Klassiker, das Werte- und Entwicklungsquadrat von F. Schulz von Thun, ist hier immer wieder ein gutes Werkzeug, um die dynamische Balance zu beleuchten und dieser Pluralität gerecht zu werden.

Eine weitere Möglichkeit ist es, die Werte in handlungsleitende Prinzipien zu übersetzen, um dem Modus der Worthülsen zu entkommen. Zum Beispiel: „Wir sind kundenorientiert.” Klingt schön, aber was heisst es für mich im Alltag? Woran machen wir fest, dass wir kundenorientiert sind? Hier ließe sich beispielsweise Folgendes ableiten: „Wir fragen nach Auftragsabschluss aktiv nach den Bedürfnissen für den nächsten Auftrag. Wir suchen bei Beschwerden aktiv nach Lösungen und zeigen uns kulant. In der Kommunikation mit unseren Kunden nutzen wir aktiv unser CRM-System“.

In der Konkretisierung hilft es, Schlüsselsituationen aus dem Alltag zu betrachten, in denen der jeweilige Wert eine Rolle spielt. Wenn es für die Werte einige solcher Prinzipien gibt, die auch noch auf Schlüsselsituationen anwendbar sind, dann ist das Ganze schon viel handlungsleitender und weniger abstrakt.

Fazit: Mehr Glaubwürdigkeit in Organisationen

“Nicht alles, was zählbar ist, zählt auch wirklich; nicht alles, was zählt, kann man auch zählen.” sagte Einstein.

Bei Werten ist es mit der Eindeutigkeit also nicht ganz einfach. Die „Gesagt-Getan-Rate“ hilft, den entscheidenden Aspekt bei der Wertearbeit in Organisationen zu betonen. Das Verhältnis von Wort und Tat. Wenn es Dir gelingt, bei Euch im Team einen Dialog darüber anzustoßen und zu konkreten Handlungen in Bezug auf Eure Unternehmenswerte zu gelangen, dann ist ein erster Schritt zu mehr Werteorientierung in deiner Organisation und deiner Arbeit getan.