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Blogbeiträge

Die Geschichte der Gemütlichkeit

 
 
 

Was ist für dich richtig gemütlich? 

Ich sehe mich in einem Kaminzimmer, auf einem bequemen Sessel, ein spannendes Buch in der Hand. Wohlig warm und zufrieden, innen und außen. 

Wenn man sich die Entstehungsgeschichte des Begriffes Gemütlichkeit genauer anschaut, verbirgt sich eine tiefere Bedeutung hinter diesem Wort.

Etymologie der Gemütlichkeit 

Der Begriff leitet sich vom Gemüt ab – das mit dem mittelhochdeutschen muot zusammenhängt, was, ähnlich dem englischen mood, Stimmung oder Laune beschrieb. Dieser Begriff umfasste bis ins 16. Jh. alle inneren Triebkräfte, Erregungen und Empfindungen des Gefühls im Gegensatz zum Verstand. 

Dementsprechend bezeichnete der mittelhochdeutsche Begriff gemuote, angelehnt an muot, zunächst die Gesamtheit aller Sinnesregungen und seelischen Kräfte. Ab dem 16. Jh. entwickelte sich hieraus der Begriff gemuotlich oder gemüetlich, was bedeutete, dem muote entsprechend – das Gemüt betreffend, dem Gemüt angehörig – vollkommen, angenehm. Also alles das, was das Gemüt anspricht und befriedigt.  

Ab 1800 hat die Bedeutung der Gemütlichkeit eine Einengung auf Behaglichkeit und zwanglos heitere Wohligkeit erfahren. Bis heute hat sich diese Bedeutung gehalten.
 

Gemütlichkeit im Biedermeier 

Dieses Verständnis haben wir aus der Kulturepoche des Biedermeiers übernommen. In dieser Zeit wurde das häusliche Glück, die Idylle und Ruhe betont. Es entstanden die ersten Wohnstuben, als Vorläufer unseres heutigen Wohnzimmers. Hier wurde gemeinsam Kaffeekränzchen gehalten oder musiziert. Auch das Weihnachtsfest wie wir es heute kennen entstand zu dieser Zeit – mit Weihnachtsbaum, Weihnachliedern und Geschenken. Die Behaglichkeit stand im Vordergrund 

Kritisiert wurde diese Epoche für seine Abkehr von den Werten der Aufklärung: sich zu engagieren, Politik und Institutionen zu hinterfragen, sich selbst zu einer eigenständig denkenden Person zu emanzipieren. Die Risikobereitschaft lies im Biedermeier nach, man richtete sich eher nach den geltenden Regeln.

Zwischen Abenteuer und Tee trinken 

Diesen Konflikt zwischen Naivität und Aufgeklärtheit spüre ich auch bei der heutigen Betrachtung des Begriffs Gemütlichkeit. Einerseits ist das Gefühl der Behaglichkeit auslösenden Atmosphäre ein toller Zustand, der immer wieder positive Emotionen liefern kann. Andererseits kann das nicht die Antwort auf alle Zustände unseres Gemüts sein. Wenn man z. B. echt mies drauf ist, reicht es manchmal nicht einen Tee zu kochen und eine Kerze anzuzünden. Dann braucht es vielleicht einen Lauf durch den Wald oder ein Gespräch mit Freunden, um die Emotionen aufzufangen und sich ernsthaft dem Innersten zu widmen.  

Das entspricht der ursprünglichen Bedeutung von Gemütlichkeit – die dem Gemüt entsprechenden Handlungen und Zustände. Gemütlichkeit kann demnach Abenteuer, Tanzen, Tee trinken oder Sport sein. Eben das, was das Gemüt gerade braucht, um sich zu regulieren.  

Differenzierte Wahrnehmung der Innenwelt 

Um so, differenziert auf die Innenwelt reagieren zu können, muss man zuerst die eigenen Sinnesregungen spüren, wahrnehmen und einordnen können.  

Was fühle ich gerade in mir? Sorgen, Ruhe, Wut, Freude? Wie intensiv fühle ich das? Brauche ich eine Regulation meiner Emotionen? Was könnte regulierend wirken? 

Diese Fragen können uns helfen zu erkennen, was wir gerade fühlen und wie wir damit umgehen wollen. Natürlich kann die Antwort hierauf Heimeligkeit und Gemütlichkeit im allgemeinen Verständnis sein, muss es aber nicht, manchmal sind andere Reaktionen passender. Beispielsweise Bewegung, obwohl sich das nach heutiger Definition nicht unbedingt gemütlich anhört. Hier liegt ein scheinbarer Widerspruch, der es lohnt, hinterfragt und aufgelöst zu werden. 

Den Winter, eine traditionell besonders gemütliche Zeit, können wir zur Erkundung unseres Gemüts nutzen. Wir können uns öfter mal auf Entdeckungstour in unsere Innenwelt begeben, um uns selbst besser kennenzulernen und mit der Zeit herauszufinden, was uns in verschiedenen emotionalen Zuständen guttut.  

So wird Gemütlichkeit zu einem spannenden Psychologischen Konstrukt – der Fähigkeit emotionalen Empfindungen stimmig zu begegnen.  

Richtig gemütlich eben. 

 
Niels HemmisWissenswertes